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Bericht über ein Gastsemester
an der National Taiwan University, Taipei

 
   
Im Rahmen der seit 1996 bestehenden Partnerschaft zwischen der Universität Hamburg und der National Taiwan University (NTU) hatte ich letztes Jahr die Gelegenheit, von Anfang März bis Ende Juni ein Semester lang an der dortigen Abteilung für Geschichte und Literatur Unterricht zu geben.

Ein Aufenthalt an der NTU ist allein schon wegen der ansprechenden Umgebung, in der der Campus dieser Universität gelegen ist, ein besonderer Genuß. Da die botanische Abteilung der Universität schon seit ihrer Gründung im Jahr 1928 durch die Japaner einen der Schwerpunkte der NTU darstellt, enthält der Campus einen Reichtum an Blumen, Sträuchern und Bäumen, der dem Besucher das Gefühl gibt, ständig in einem wunderschönen Garten zu lustwandeln.

Der Name des Weges, der die Längsachse zwischen dem Haupteingang zur Universität und der erst kürzlich neu erbauten Zentralbibliothek bildet, lautet "Palmenallee" und ist denn auch auf beiden Seiten von schlanken hohen Fächerpalmen gesäumt. Unvergeßlich werden mir die morgendlichen Fahrten auf dem Rad von meinem nahegelegenen Gastdozenten-Appartment über die belebte Querstraße bleiben, an der mir beim regelmäßigen Warten an der roten Ampel stets diese unvergleichliche Mischung aus "stinkendem Doufu" und dem Weihrauch, der einem an der Straßenecke gelegenen Tempelchen entwich, in die Nase stieg. Sobald man dem Auto- und Motorradchaos und jenen Düfte-Orgien entkommen war, tauchte man in die Ruhe und Beschaulichkeit eben jener Palmenallee auf dem Universitätscampus ein.

Die Abteilung für chinesische Geschichte und Literatur – das dortige Pendant zu unserer sinologischen Abteilung ­– liegt etwa in der Mitte des Campus. Etwas schräg versetzt, auf der anderen Seite der Palmenallee, steht sodann jene Glockenkonstruktion, ein Wahrzeichen der NTU, das auch das Universitätsemblem ziert. Die Glocke ist dem Gedächtnis Fu Ssu-niens gewidmet, der die Universität von 1949 bis 1950 als Präsident leitete. Nicht weniger als jene seltsamen Düfte gehört auch die "Big Ben"-Melodie, die täglich mehrmals von dieser Stelle ausging (von einem Band – versteht sich) und jeweils Beginn und Ende der Unterrichtsstunden einläutete, zu den einprägsamen Erinnerungen, die sich mir mit dem Aufenthalt an der NTU verbinden.

Mir war es vergönnt, als erster Gast von deutscher Seite den einsemestrigen Wissenschaftleraustausch wahrzunehmen, der 1999 als Erweiterung des bereits bestehenden einmonatigen Austauschs vereinbart worden war; von chinesischer Seite war bereits im Sommersemester 2000 Professor Huang P’ei–jung nach Hamburg gekommen. Diese Erweiterung der Universitätspartnerschaft hatte wiederum Professor Ho Chi–p’eng, einer der drei Dekane der NTU, bei seinem einmonatigem Aufenthalt in Hamburg im Sommer 1999 angeregt.

Das Thema, das ich der Abteilung für Geschichte und Literatur der NTU angeboten hatte, war die Auseinandersetzung mehrerer Gelehrter der Han-Dynastie (206 v. – 220 n. Chr.) mit der Reichseinigerdynastie Qin (221 – 207 v. Chr.). Wir lasen und analysierten mehrere Schriften, in denen die Gründe für den Aufstieg und dann, nach der Reichseinigung, den so jähen Niedergang von Qin in ganz unterschiedlicher Weise diskutiert wurden. Dabei wurde immer wieder deutlich, daß jene geradezu grotesk verzerrten Bilder vom Ersten Kaiser als einem machthungrigen und dem Unsterblichkeitswahn verfallenen Despoten, die sich bis heute in den Köpfen vieler als Bild vom Wesen des Reichsgründers verfestigt haben, vor allem als Produkt pädagogischer Lektionen betrachtet werden müssen, die engagierte Beamte und Privatgelehrte den Herrschern ihrer eigenen Tage auf indirekte Weise erteilten.

Mein Unterricht war, wie ich nach meiner Ankunft feststellte, als eine Art "Oberseminar" ins Vorlesungsverzeichnis aufgenommen worden. Es war für Studierende ab dem Bachelor-Grad bis hin zu Doktoranden ausgewiesen und sollte offen sein für Teilnehmer sowohl aus der Literatur- als auch Geschichtsabteilung. Am Ende des Semesters hatten die Teilnehmer eine schriftliche Arbeit zu einem auf das Seminar bezogenen, jedoch frei gewählten Thema, anzufertigen, und so gehörte das Seminar zu den anrechenbaren Kursen – wobei sich allerdings der Geschäftsführende Direktor vorbehielt, die Arbeiten selbst durchzusehen und nach den Regelungen der NTU zu benoten.

In mehrfacher Hinsicht war dieses Seminar nicht nur für mich, sondern wohl auch für die dortigen Studierenden eine ganz neue Unterrichtserfahrung. Nachdem ich in der ersten Stunde den etwa zwanzig Interessierten, die zunächst zum "Schnuppern" gekommen waren, mein Konzept vorgestellt hatte, das nicht in einem bloßen Vortragen und Belehren meinerseits bestehen sollte, sondern als ein gemeinsames Diskutieren der von mir zur Bearbeitung vorgelegten Texte gedacht war, standen etwa ein Dutzend von ihnen bei mir um eine Unterschrift an, daß sie an meinem Unterricht teilnehmen wollten. Diese Zahl reduzierte sich dann zwar im Laufe des Semesters recht bald auf nurmehr die Hälfte, doch mit diesem "harten Kern" von sechs hochmotivierten und engagierten Studierenden entwickelte sich ein zunehmend intensives Arbeiten. Für mich völlig ungewohnt war, daß meine taiwanesischen "Studis", wenn ich etwa ankündigte, daß ich in der nächsten Woche mit einem bestimmten Text beginnen wollte, unaufgefordert eine von ihnen selbst ausgewählte Ausgabe dieses Textes mitbrachten, oder daß sie freiwillig schriftliche Antworten zu den von mir gestellten Fragen verfaßten und im Unterricht fünf- bis zehnminütige Kurzreferate hielten.

Die Sympathie, die sich zwischen meinen Studenten und mir während dieses Semesters entwickelte, fand am Ende ihren Höhepunkt in einer Einladung zu mir ins Appartment, anläßlich dessen ich aus dem am Taipeier Bahnhof gelegenen japanischen Kaufhaus Mitsukoshi eigens eine ganze Schwarzwälder Kirschtorte besorgt hatte und diese zusammen mit Kaffee und Vanilleeis anbot. Meine "Studis" hatten ein ganz besonderes Geschenk für mich ausgesucht: eine kurzärmelige rosa Seidenbluse im traditionellen Stil, die ich auch sofort anprobieren sollte, was ich auch brav tat und sodann allgemeinen Beifall erhielt – sie paßte wie angegossen.

Erwähnt sei schließlich noch jener ehrenvolle Platz, den man mir zugewiesen hatte während meines Gast-Daseins an der NTU: Er befand sich in dem "Vierten Forschungsraum", unmittelbar neben dem Büro des Geschäftsführenden Direktors, und darin standen vier Tische, an denen meist außer mir niemand saß, und wenn, dann waren es Herren und Damen "älterer Semester". Zuerst wußte ich nicht recht, was ich mit der Ehre, offenbar im "Seniorenraum" untergebracht zu sein, anfangen sollte, doch bald klärte mich einer der jüngeren Professoren, der sein Büro an einem weit von den Unterrichtsräumen abgelegenen Ort hatte, über die Besonderheit des mir zugedachten Platzes auf: Es war der Arbeitsplatz von Wang Shumin, einem bekannten chinesischen Sinologen, der unter anderem das gesamte Shiji, die früheste Universalgeschichte Chinas, textkritisch bearbeitet hatte. Ich hatte es gleich am ersten Tag auf meinem Schreibtisch stehen sehen, aber nicht geahnt, daß sein Autor zuvor an diesem Tisch gesessen hatte. Als mich der junge Professor auf meinen prominenten Vor-Sitzer aufmerksam machte, sprang ich sogleich auf und verbeugte mich in Richtung Stuhl, was, wie ich an der Reaktion des Professors merken konnte, wohl auch die einzig angemessene Reaktion war. – Da eben jenes von Wang Shumin annotierte Geschichtswerk auch im Zentrum meiner in Vorbereitung befindlichen Habilitation steht, bleibt zu hoffen, daß der genius loci, der mich während der Zeit an der NTU beflügelte, mir auch in Hamburg bis zur Fertigstellung dieser Arbeit beistehen wird.

Dorothee Schaab-Hanke

 
publiziert in:
Jahresbericht 2001. Hamburg: Hamburger Sinologische Gesellschaft, 2002
(Mitteilungen der Hamburger Sinologischen Gesellschaft 17), 23-25.